Yayoi Kusama - Du sollst Dein Selbst verlieren
/ Die Welt

Knallfarbige Räume, übersät mit Punkten. Organische Formen, die darin emporwachsen. Manchmal sind die Räume verspiegelt, dann wird daraus eine Reise in die Unendlichkeit, bei der alle Grenzen verschwimmen. Die Frau, die so etwas baut und sich darin gern ablichten lässt, hat einen feuerroten Pagenschnitt, trägt gepunktete Kleider und heißt Yayoi Kusama. Sie ist Japanerin, 92 Jahre alt – und hat in den letzten 70 Jahren ein ebenso poppiges wie hochemotionales Oeuvre geschaffen, in dem es um nichts Geringeres geht als um die Verschmelzung des Menschen mit der Kunst.

 

„Ich konvertiere Lebensenergie in Punkte des Universums. Und diese Energie fliegt gemeinsam mit der Liebe in den Himmel“, hat Yayoi Kusama einmal gesagt. Es sind diese Worte, die man beim Besuch im Berliner Gropiusbau im Hinterkopf haben sollte, wenn dort am 23. April die wohl wichtigste Ausstellung des Jahres in Deutschland, wenn nicht gar in Europa eröffnet. Der Direktorin Stephanie Rosenthal ist damit ein Coup gelungen. Nicht nur, weil die hierzulande erste, längst überfällige Retrospektive dieser Ausnahmekünstlerin einen (in Corona-Zeiten wie auch immer gearteten) Publikumsansturm garantiert, sondern weil sie unter anderem anhand der Nachempfindung originaler Präsentationen zeigen wird, wie absolut eigenständig, in jeder Hinsicht grenzüberschreitend und unglaublich visionär Kusama agiert hat – und wie sehr sie Europa verbunden ist, das eine Zeitlang Dreh- und Angelpunkt ihres Schaffens war.

 

Mitte der 60er-Jahre kam die Künstlerin frustriert aus New York angereist, wo sie seit 1958 lebte und die Kunstszene aufmischte, allerdings auch immer wieder brüskiert wurde. Heute ist sie dort eine Berühmtheit. Für ihre Ausstellung in der Galerie David Zwirner vor zwei Jahren standen vor allem junge Leute in Schlangen wie für ein Lady Gaga-Konzert an, um sich in ihren „Infinity Rooms“ zu verlieren. Sie kennen Kusama, wenn nicht aus den wichtigsten Museen der Welt, dann von Instagram, wo ihre gepunkteten Riesenkürbisse und Allover-Installationen sofort ins Auge springen, als seien sie extra dafür gemacht. Doch als Kusama in New York lebte, musste sie kämpfen. Da war sie nicht nur eine Frau, sondern auch Asiatin – eine, die mit einer radikal neuen Kunstsprache Sitzlandschaften aus silbrigen, selbstgenähten Stoffpenissen entwarf, Nacktperformances und ein First Homosexual Wedding inszenierte sowie andere Dinge tat, die so neu waren, dass selbst Big Apple erst einmal abwartete, bis sich die Männer etwas von ihr abgeguckt hatten und sich für ihre „Erfindungen“ feiern ließen. Aber dazu später.

 

Kusama wird 1929 in Matsumoto in eine Familie geboren, die eine Samengärtnerei betreibt. Sie weiß schon als Kind, dass sie Künstlerin werden will. Ihr Zuhause ist kein heiler Ort, der Vater ist untreu, was bei Kusama ein Trauma auslöst: Der Phallus ist für sie angstbesetzt, weshalb sie ihn in ihrer Kunst immer wieder thematisieren wird. Als Mädchen verarbeitet sie ihre Ängste in Zeichnungen, doch die Mutter nimmt ihr die Malutensilien weg und sagt, dass sie einen reichen Mann heiraten und Hausfrau zu werden hat. Kusama ist zehn Jahre alt, als sie Halluzinationen bekommt. Sie vermitteln ihr ein Gefühl des Eintauchens – Kusama wird später von „Auren“ und „dichten Punktefeldern“ sprechen, die sie und ihre Umgebung umschlossen, was sie als „Selbstauslöschung“ wahrnahm: eine Erfahrung, ohne die ihr immersives Werk nicht denkbar ist. 1950 beginnt sie, Wände, Böden, Leinwände und Dinge mit Punkten zu versehen. Sie stehen für das, was sie später bei ihrem Self-Destruction Happening so formuliert: „Werde eins mit der Ewigkeit. Verlier dein Selbst. Werde eins mit der Umgebung. Vergiss dich. Selbstauslöschung ist der einzige Ausweg.“

 

1958 flieht sie aus der engen Welt Japans und geht nach New York. Die Kunstwelt dort ist auf andere Weise konservativ: Frauen bekommen hier praktisch keine Einzelausstellungen. Doch Kusama ist hartnäckig. 1963 schafft sie es, mit Donald Judd, Andy Warhol und Claes Oldenburg in der renommierten Green Gallery auszustellen. Sie zeigt einen Sessel voller Stoffphalli, der heute im MoMA steht. Prompt kopiert Oldenburg ihre Idee und wird kurz darauf mit seinen „Soft Sculptures“ berühmt. Kusama ist entsetzt. Kurz darauf stellte sie ein Boot aus, wieder voller phallischer Weichskulpturen, umgeben von einer seriell bedruckten Fototapete, die dasselbe Boot zeigt – es ist das erste Environment, ein völlig mit Kunst durchtränkter Raum, in den man eintaucht wie ins All. Warhol lobt die Schau – und lässt sich wenig später für sein fast identisch gestaltetes Environment feiern, das das Konterfei einer Kuh präsentiert. Und als Kusama 1966 ihren ersten Spiegelraum zeigt, stiehlt Lucas Samaras ihre Idee für seine Ausstellung in der Pace Gallery. Das reicht. Kusama verfällt in Depressionen, springt aus dem Fenster, überlebt – und geht, zumindest für eine Weile, nach Europa.

 

In Deutschland kennen Insider sie seit 1960, dank Ausstellungen in Leverkusen, Essen, Gelsenkirchen und Trier. Nun trifft sie die Düsseldorfer Zero-Künstler, bereist Holland und Italien, veranstaltet mehr Happenings denn je und stellt ein Meer aus Spiegelbällen auf der Biennale von Venedig aus, während die New Yorker Museen sie ignorieren. Dennoch: Kusama fühlt sich als Außenseiterin. Freiheit existiert für sie nicht ohne Obsession, sie reißt andere mit, ohne je selbst zu lachen. Betrachtet man sie auf Fotos, wirkt Kusama bitterernst, während sie nackte Menschen mit Punkten bemalt. Punkte sprüht sie auch auf Toastbrote und Frühstückseier, doch mit ihrem eisernen Willen und ihrem Sinn für Selbstdarstellung treibt sie die Fotografen in den Wahnsinn. Es gibt Bilder von ihr im schwarz glänzenden Affenhaarmantel und im roten Strumpfanzug, wie sie Tupfer auf Autos, Straßenpflaster und Schaufensterpuppen setzt, mit Sprühdose und Pinsel ans Werk geht, doch auch bei den wildesten Aktionen behält sie wie eine Zeremonienmeisterin den Überblick. Ein Augenzeuge sagte einmal, sie sei „ein verlorener Stern in ihrer eigenen Show.“ Im Grunde gilt das für ihr ganzes Leben.

 

Und so zieht sie eines Tages die Konsequenz. 1977 geht Kusama nach Tokio und lässt sich in eine Nervenheilanstalt einliefern, von wo aus sie ihre Karriere langsam, aber stetig weiter ausbaut – und wo sie immer noch lebt. Stephanie Rosenthal hat sie besucht. „Sie arbeitet in einem kleinen Zimmer, in dem handliche Bilder entstehen. Einmal über die Straße liegt ihr zweistöckiges Atelier samt Archiv. Sie hat ein kleines Team, erstaunlich für ihren immensen Output.“ Kusama empfing die Kuratorin mit offenen Armen, hatte sofort Lust auf Berlin. „Am Wichtigsten sind ihr die neuesten Bilder. Die Geschichte interessiert sie nicht so sehr.“ Die Ausstellung wird dennoch auch die zarten Zeichnungen aus den Fünfzigerjahren zeigen, die selbst für Fans Neuland sein dürften. So wie Kusama in Deutschland überhaupt erstaunlich unbekannt ist. „Dem Bildungsbürgertum ist sie nicht sehr geläufig“, sagt Rosenthal. Bei jungen Menschen, die sie auch über soziale Netzwerke kennen, sei das anders. Wie gut sie in ihren Environments auf Bildern aussieht, hat Kusama früh bedacht, womit sie nicht nur Strategien aus Mode und Marketing, sondern gar das Selfie vorweggenommen hat. Sie steht also auch für eine interdisziplinäre, kommerzielle Taktik, die andere Künstler erst Ende der Neunzigerjahre entdeckten: Kusama entwarf Möbel und Mode, hatte ein eigenes Label, eine eigene Transportfirma, eine Boutique, gab eine Zeitschrift heraus und trat ohne Galerie für sich selber ein. „Sie ist eine absolute Vorläuferin, die anderen Frauen den Weg geebnet hat“, sagt Rosenthal. Doch weil sie nach Japan zurück und in die Isolation ging, habe sie erst spät die Anerkennung erhalten, die sie verdient. „In Japan war sie wegen ihres offenen Umgangs mit dem Körper Persona non Grata. Dass sie 1993 den Länderpavillon auf der Biennale von Venedig bespielte, war keine Selbstverständlichkeit. Erst um die Jahrtausendwende wurde sie populär.“

 

Mit rund 300 Arbeiten wird nun die ganze Bandbreite eines unglaublich fantasievollen, emotional wie konzeptionell klugen Werks gezeigt, das zahllose Strategien und Stile antizipierte – mit einer schlafwandlerischen Sicherheit, wie sie nur die Besten hervorbringen. Dass die Grande Dame der Kunstgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts in einer Klinik lebt und dort Trauma in Kunst, Angst in Liebe transformiert, zeigt, wie wenig ein Begriff wie „Outsider Art“ greift. Die teuerste lebende Künstlerin tut einzig und allein das, woran sie glaubt – und macht so unsere Welt, zumindest ein Stück weit, zu einem besseren Ort.